Als der Spion wackelte: Stratego in Frankfurt


Für Matthias Daube

Es war im Jahr 1974. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) regierte in Deutschland, die erste Ölkrise lag hinter uns, und in den Hitparaden regierten Bands wie Abba, Smokey und - für den gehobenen Anspruch - Queen. In diesem Jahr brachte mir mein Frankfurter Schulfreund Matthias Daube ein neues Spiel bei: STRATEGO. Im Gegensatz zu anderen Spielen sah ich in diesem kein Land gegen meinen Freund. Ich schätze, dass ich die ersten zwanzig, dreißig Spiele sang- und klanglos verloren habe. Warum eigentlich? Zwar konnte ich gut rechnen und kombinieren, aber Matthias war der Meister des Bluffs und konnte so ein ums andere Mal triumphieren. Das stachelte meinen Ehrgeiz jedoch nur umso mehr an. Ich wollte besser werden und mithalten können.

Natürlich brachten wir auch anderen Freunden STRATEGO bei. Und so begann sich im Laufe des Jahres 1975 in Frankfurt-Rödelheim eine Stratego-Clique zusammenzufinden, die regelmäßig leidenschaftlich zu zocken begann. Die meisten waren damals 14, 15 Jahre alt, einer der Spieler - mein jüngerer Bruder Harald - war erst sieben. Für sein Alter spielte er bereits erstaunlich gut und konnte fast jeden schlagen. Natürlich veranstalteten wir bald auch Turniere. Nach selbst gefundenen Regeln: 2 Punkte gab es für den Sieg, 1 Punkt für das (eher seltene) Remis. So wie damals auch im Bundesliga-Fußball üblich. Gespielt wurde meist im System "Jeder gegen jeden", was bei sechs bis zehn Spielern gerade noch so klappte, obwohl ohne definierte Zeitbegrenzung ein Match bis zu zwei Stunden dauern konnte. So verging meistens ein ganzer Tag, bis der Sieger feststand, manchmal wurde auch erst am nächsten Tag weiter gespielt, was nicht so glücklich war. Immer aber endete das Ganze in einem kleinen Fest bei Pizza, Pasta, Cola oder "Äppelwoi" (Frankfurter Nationalgetränk). Die ersten fünf Turniere gewann mein Freund Matthias am Stück und ohne eine einzige Niederlage. Wir nannten ihn daher den „Björn Borg“ des Strategospiels. Ich dagegen avancierte zu einer Art John McEnroe und rückte immer näher an meinen Lehrer heran, bis ich im Mai 1976 mein erstes Turnier gewinnen konnte. Es sollte nicht bei einem Turniersieg bleiben. Matthias und ich wechselten uns jetzt ständig an der Spitze ab.

Ich habe hier noch die Abschlusstabelle eines Turniers vom Dezember 1976 vor Augen. (Ich bin ein Statistik-Freak und habe immer alle Tabellen gesammelt.) Sie sieht wie folgt aus:

1. Matthias Daube / Eberhard Pausch 13-01 Punkte
3. David Koch / Thomas Rosenbaum 08-06 Punkte

5. Harald Fäth 07-07 Punkte
6. Josef Grän 04-10 Punkte
7. Manuel Gräber 02-12 Punkte
8. Christian Hill 01-13 Punkte

Aus dieser Tabelle ersieht man schon einige wichtige Namen, die damals im Frankfurter Stratego eine Rolle spielten. Ich füge hinzu: Klaus Wethmüller (ein sehr fähiger Mathematiker: „quadratisch-praktisch gut“), Bernd Weber, Hans-Joachim Wach („Chima“), Hans-Joachim Heusenstamm („Heuso“), Wolfgang Ritzel, Torsten Raab (heute Arzt in Eltville) sowie Giovanni und Gavino Reß aus Oberrad.

Matthias und ich dominierten aber damals die Frankfurter Szene und waren annähernd gleich stark. Den Ausschlag gab dann die Tagesform. In dem obigen Turnier hatten wir zum Beispiel gegeneinander Remis gespielt und lagen fünf Punkte vor den stärksten Verfolgern!

Der jüngste Spieler im Feld war mein Bruder Harald. Er verpasste schon damals nur ganz knapp durch eine unglückliche Niederlage gegen David in der letzten Runde den 3. Platz, was sein großes Potenzial zeigt.

Drittstärkster Spieler war zu dieser Zeit eben jener David Koch, ein verwegener Angreifer, der gerne zu frei stehenden Fahnen durchmarschierte. Ein Mal jedoch wurde er regelwidrig geblufft. Und das kam so: Einige Spieler stellten fest, dass bei einem frisch gekauften Strategospiel eine einzige Figur wackelte. Und zwar war das ausgerechnet der Spion! Statt nun das Spiel umzutauschen, organisierten die Eingeweihten zum Schein ein Turnier. Jeder Nicht-Eingeweihte, der mit dem Wackelspion spielen musste, erlebte stets ein lachendes Gegenüber, das öfters mit der flachen Hand auf die Tischkante schlug und anschließend noch lauter lachte. Auch David war eines der Opfer. Er konnte nicht verstehen, warum der gegnerische Feldmarschall immer so siegessicher durch seine Reihen zog und niemals, in keinem Fall, an den Spion geriet. Nun, kurz und gut, dieses Turnier der späten siebziger Jahre wurde nicht gewertet, geriet aber aufgrund der großen Lacherfolge bald zur Legende.

Matthias und ich heischten in den Siebzigerjahren Rekorde ein. So blieb Matthias einmal in 21 Turnierspielen hintereinander bei 38-4 Punkten ungeschlagen. Und ich schaffte in 19 Spielen 37-1 Punkte. Umso bitterer war es, wenn danach wieder Niederlagen folgten, was selbstverständlich auch nicht ausblieb. Besonders schlimm waren Niederlagen gegen Spieler zu verkraften, die man „eigentlich“ locker schlagen konnte.

Ich weiß noch, wie Matthias 1977 nach einer Niederlage gegen Thomas Rosenbaum fluchte - oder gar zehn Jahre später, als Christian Hill ihn mit einer Attacke überraschte. Mein persönlicher Angstgegner war eher David, der auf meine Bluffs nie hereinfallen wollte und einfach alles schlug, was sich bewegte - und oft auch unbewegte Figuren. Bomben? Davon hatte er offenbar noch nie gehört. Nun, auch gegen David habe ich mit 14:3 Siegen ein klar positives Konto in Turnieren. Aber Tatsache ist auch, dass ich immer dann, wenn ich gegen ihn verlor, auch das jeweilige Turnier nicht gewinnen konnte.

Um das Jahr 1980 herum machten viele von uns ihr Abitur und zogen in andere Städte, um zu studieren. Von nun an kam der alte Freundeskreis nur noch etwa alle ein bis zwei Jahre zu einem großen Turnier zusammen. Aber dabei ging es genauso hoch her wie in den goldenen Siebzigern! Unser Lieblingslied war damals nach einer bekannten Waschmittel-Fernsehwerbung "Der General, der General macht alles sauber". Wir sangen es immer nach erfolgreichen Angriffen mit dem General.

Die Schachuhr als Lösung eines Grundproblems des Strategospiels entdeckte immer noch keiner von uns Rödelheimer Hobby-Strategen, obwohl manche sogar Schach spielten. Aber dafür wurde zu Beginn des Turniers eine "Hymne" eingeführt. Es war "Also sprach Zarathustra" von Richard Strauß. Als einmal in einem Kleingarten gespielt wurde und kein Plattenspieler greifbar war, erklärten manche Spieler ihre schwache Leistung bei diesem Turnier damit, es sei eben diesmal am Anfang keine Hymne erklungen. Im Grunde sei das Turnier damit ungültig. Harald, der ja bereits früh in guter Schule gewesen war, wurde in den Achtzigerjahren immer stärker und gewann schon 1982 sein erstes Turnier. Ein Newcomer namens Sigurd Rink, begnadetes Verteidigungstalent mit nahezu unerschöpflicher Geduld ("Mein Motto ist die Fehlervermeidung!") mischte an der Spitze mit. Altmeister Matthias Daube stieg Ende der Achtzigerjahre aus persönlichen Gründen aus der Turnierclique aus, was noch heute viele Frankfurter bedauern. Turniersiege schafften in den „Achtzigern“ Matthias (2x) und ich (3x), aber auch Harald Fäth (1x) und Sigurd Rink (1x).

Die „wilden Neunziger“ begannen. Zwischen 1990 und 1996 fanden noch einmal sechs Turniere statt. Da wir eifrig Mitspieler gesucht und geworben hatten, musste inzwischen meist mit einer Vorrunde in mehreren Gruppen und einer kleinen Finalrunde gespielt werden. Der stärkste Spieler der Neunzigerjahre war mit zwei Turniersiegen und drei zweiten Plätzen statistisch gesehen mein Bruder Harald. Ich konnte ebenfalls zwei Turniere gewinnen und wurde zweimal Zweiter, einmal nur Dritter. Je einmal siegten Sigurd Rink und - ein weiterer Newcomer der Szene - der Offensivspieler Michael Bockelt. David Koch, der ewige Dritte der Siebzigerjahre, erlebte ein unerwartetes Comeback, wurde einmal "Vize" und zweimal Dritter. Dabei gelang es ihm einmal sogar, den Ersten und den Zweiten des Turniers zu schlagen, aber am Ende fehlte ihm ein einziger Punkt zur Spitze. Daran war diesmal allerdings kein Wackelspion schuld ...

Ein Turnierklassiker der 90er fand im August 1994 statt. Die acht punktbesten Frankfurter Turnierspieler spielten untereinander ihr „Masters“ aus. Dies hier war die Abschlusstabelle des spannenden Turniers:

1. Harald Fäth 11-03 Punkte
2. Eberhard Pausch / Sigurd Rink 10-04 Punkte

4. Michael Bockelt 08-06 Punkte
5. Oliver Heil 07-07 Punkte
6. David Koch 06-08 Punkte
7. Christian Hill 04-10 Punkte
8. Torsten Raab 00-14 Punkte

Ungeschlagen blieb damals keiner, was die große Leistungsdichte widerspiegelt.

Wir Frankfurter Strategen waren und blieben Gelegenheitsspieler, an eine professionellere Ebene, wie sie heute der StraDeV bietet, dachte damals keiner von uns. Wir trafen uns zum Zocken so richtig ja auch nur einmal im Jahr. Von den starken Holländern wussten wir gar nichts. Mitte, Ende der Neunziger verlief sich das Ganze im Sande. Manche zogen aus Frankfurt oder gar Hessen weg, andere gründeten Familien und wickelten ihre Babies, wieder andere hatten nur noch ihren Beruf im Sinn. Einer der besten Spieler, Michael Bockelt, starb sogar aus heiterem Himmel an einer schweren Krankheit. Mit ihm schien auch das Frankfurter Stratego gestorben zu sein ...

Im EXPO-Frühjahr 2000 zog ich, der inzwischen mit meinen Söhnen Vincent und Ansgar Stratego spielte, aus beruflichen Gründen von Frankfurt nach Hannover. Im Internet entdeckte ich eines Tages zufällig den StraDeV (www.stratego-verband.de) und war von der Idee sofort begeistert. Treffs mit den Hannoveraner Strategen Marco Dittmann und Heiko Kampmann zeigten schnell, dass die Frankfurter Szene auch für Deutschland interessant sein könnte und noch ausbaufähig ist: Von den ersten fünf Spielen gegen diese beiden konnte ich drei gewinnen! Dass Marco Deutscher Vizemeister war, wusste ich am Anfang gar nicht. Vielleicht hätte ich sonst aus Respekt verloren.
Überhaupt gefiel mir die Professionalität der Sache gut: Dass es eine Weltrangliste gab, dass Turniere nach Schweizer System gespielt wurden und die Zeit nach Bronstein-Uhren bemessen wurde, dass mit dem „Marschall-Plan“ eine journalistisch sehr gut gemachte Verbandszeitung existierte, das alles fand mein Wohlgefallen.

Mein erstes Weltranglistenturnier war die Deutsche Meisterschaft im November 2000. Ich wurde am Ende mit vier Siegen, einem Remis und zwei Niederlagen Zehnter (von 50 Spielern) und gewann den begehrten Pokal des besten Neueinsteigers. Seitdem hat mich die Faszination nicht mehr losgelassen. Auch mein Bruder Harald startete im Frühjahr 2001 viel versprechend mit einem 4. Platz in Wuppertal. Auch er wurde bester Neueinsteiger. Nun sind wir längst „alte Hasen“ in der Szene und konnten unsere Frankfurter Erfahrungen in manche Erfolge umzumünzen. Bei mir zum Beispiel steht ein Wald von Pokalen im Wohnzimmer, über den meine Frau immer wieder einmal stöhnt.

Die nächste Generation aber hat uns längst schon überholt: Rebecca und Hagen Fäth haben schon einige Pokale gewonnen, Vincent war Deutscher Meister der Junioren im Jahr 2005 und hat 2006 in Antwerpen sogar den Titel des Junioren-Vizeweltmeisters geholt. Ansgar ist zigfacher Turniersieger und amtierender Deutscher Junioren-Vizemeister. Mal sehen, wo das noch hinführt mit uns Stratego-Verrückten …

Aber die Frankfurter Anfänge werde ich bestimmt nicht vergessen und vor allem nicht meinen Freund Matthias Daube, den „Björn Borg“ des Frankfurter Stratego. Ihm ist daher dieser kleine Artikel gewidmet.


Eberhard Martin Pausch

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Last Updated : 16.08.2008